form follows function – yes or no?
Meine Leserinnen und Leser wissen inzwischen, dass ich Phrasen gerne auf den Grund gehe. Ganz besonders dann, wenn es sich um Begriffe handelt, die wie ein Dogma im Raum stehen. In diesem Fall: form follows function.
Denn das Prinzip form follows function hat seinen Ursprung nicht am Bauhaus, wie oft behauptet wird, sondern wurde zum ersten Mal von dem amerikanischen Bildhauer Horatio Greenough (1805-1852) in seinen theoretischen Aufsätzen Form and Function: Remarks on Art, Design and Architecture formuliert. Greenough setzte damit erstmalig Impulse für das Verhältnis von Form und Funktion und für den Funktionalismus. (1)
Kennerinnen und Kenner verbinden die Redewendung als Zitat des amerikanischen Architekten Louis Sullivan (1856-1924) und doch wird der gesamte Kontext seiner Aussage oftmals vergessen oder ausgespart:
»„Es ist das Gesetz aller organischen und anorganischen, aller physischen und metaphysischen, aller menschlichen und übermenschlichen Dinge, aller echten Manifestationen des Kopfes, des Herzens und der Seele, dass das Leben in seinem Ausdruck erkennbar ist, dass die Form immer der Funktion folgt.« (2)
In einem anderen Textbereich erläutert er erneut die Beziehung zwischen Form und Funktion:
»Whether it be the sweeping eagle in his flight, or the open apple-blossom, the toiling work-horse, the blithe swan, the branching oak, the winding stream at its base, the drifting clouds, over all the coursing sun, form ever follows function, and this is the law. Where function does not change form does not change.«
»Ob es der gravitätische Adler in seinem Flug ist oder die geöffnete Apfelblüte, dass sich abplagende Arbeitspferd, der anmutige Schwan, die sich verzweigende Eiche, der sich schlängelnde Strom an seiner Quelle, die treibenden Wolken, über allem die scheinende Sonne – die Form folgt immer der Funktion, und dies ist das Gesetz. Wo die Funktion sich nicht ändert, ändert sich die Form nicht.« (3)
Nicht zu überlesen ist, dass Sullivan sich in beiden Zitaten stark auf die Natur bezieht. Ein wichtiger Aspekt, der uns darauf hinweist, mehr von der Natur und ihrem Verhältnis von Form und Funktion zu lernen (siehe mein Buch formatio naturalis). Des Weiteren integriert er das Übermenschliche, Kopf und Herz, kurz er plädiert für eine ganzheitliche Sicht auf die Welt. Dabei wird aus den Zitaten auch deutlich, dass das Menschgemachte hier nicht im Vordergrund steht, sondern aus dem Gesetz, wie er es nennt, als Manifestation folgt.
Von einem Verzicht auf das Ornament redet und denkt er nicht, schon deshalb nicht, weil das Ornamentale auch in der Natur vorhanden ist – man denke nur an den Paradiesvogel. Das Ornament ist für ihn ein funktionales Element. Und die Architektur und Mensch sind für ihn eins: »Wie du bist, so sind deine Gebäude.« (Sullivan 1924) Überträgt man die Aussage auf das Design hieße das:
So wie du bist, so sind deine Produkte.
Die strikte Ablehnung jeglicher Ornamentik erfolgte von dem streitbaren, österreichischen Architekten Adolf Loos (1870-1933). Er war ein entschiedener Gegner der Wiener Sezession, also des Jugendstils, und vertrat die Trennung zwischen der Architektur, die allen gefallen müsse, und der Kunst, die niemanden zu gefallen habe.
» […] Das Kunstwerk will die Menschen aus ihrer Bequemlichkeit reißen. Das Haus hat der Bequemlichkeit zu dienen. Das Kunstwerk ist revolutionär, das Haus konservativ.« (4)
Als Wegbereiter der Moderne kritisierte Adolf Loos auch das Bauhaus in dessen späteren Interpretation form follows function, das die Funktion über alles stellte. Kein Wunder, war Loos doch ein konservativer Traditionalist und Verfechter edler Materialien. Das Staatliche Bauhaus (gegründet 1919-1933) prägte die noch heute gültige Interpretation, insbesondere im Design, nämlich die pure Reduktion auf die Funktion. Die Natur als Bezugspunkt wird nicht explizit erwähnt, obwohl der goldene Schnitt in vielen Bauhaus-Resultaten erkennbar ist und der Schweizer Kunsttheoretiker und Maler Johannes Itten (1888-1967) in seinen Unterrichtseinheiten für die Ganzheitlichkeit mit Sport, Bewegung und zarathustrischen, christlichen und hinduistischen Elementen, also auf der unbewussten Ebene unseres Seins, experimentierte.
Bei den heutigen Herausforderungen im Streben nach Nachhaltigkeit bin ich überzeugt, dass Sullivans vollständiges Zitat uns den Blick in die Natur öffnen könnte, um dort neue Denkweisen und Lösungen zu finden. Hier verweise ich erneut auf mein gefühltes Sachbuch formatio naturalis, Auf den Spuren der Gestaltungskunst der Natur und was wir von ihr lernen können
(1) siehe Arne Winkelmann (Hrsg.): Horatio Greenough, Form und Funktion; Frankfurt a. M.: Antaeus Verlag 2012, S. 7.
(2) aus Sullivans Aufsatz: „The tall office building artistically considered“, veröffentlicht 1896, als Zitat seines Partners Dankmar
Adler, der ihn seinerseits modifizuiert von Henri Labrouste übernahm.
(3) Louis Sullivan: The tall office building artistically considered, 1896
(4) 1910 veröffentlichten Essay Architektur
Foto: jggrz Thüringen