Oder: Warum der Sinn des Sinnlosen manchmal das Sinnvollste ist.
Kreativität ist ein merkwürdiges Wesen, und doch steht sie auf den ersten drei Plätzen (je nach Quelle) für die wichtigsten Skills der Zukunft. Letzteres wäre Grund genug, sich stärker mit ihr auseinanderzusetzen, statt einseitig in der Faszination von Künstlicher Intelligenz zu schwelgen.
Kreativität
Was ist also Kreativität? Einige behaupten, sie kommt, wenn man sie nicht ruft und versteckt sich, wenn man sie braucht. Andere lesen sie von erbrachten Leistungen ab, also eher am Resultat und im Blick zurück. Ich sehe schon meine Designerkollegen stirnrunzelnd den Kopf schütteln, ist Design doch immer mit einem Ziel, also einem Motiv, verbunden. Allerdings wissen wir auch alle, dass Kreativität in einem zu eng geschnürten Korsett aus Gründen, Zielen oder KPIs, wie ein Teenager reagiert: mit Trotz oder plötzlicher Unsichtbarkeit. (Übrigens, eine tiefere Beschäftigung mit Kreativität und der Kreativität der Natur finden Sie in meinem Buch formatio naturalis)
There is no creativity if there is a motive behind it
Auch wenn der Satz nach einem Zen-Koan sich anhört, über den man meditierend zum Verständnis kommen sollte, stellt man auf den dritten Blick fest: Dieser Satz enthält eine unangenehme, tiefere Wahrheit.
In ihm liegt die große Herausforderung im Design und in jeder zweckgebundenen Lösungssuche: die eigene Freiheit vom Briefing, also dem Motiv, dem Zweck, zu finden, um frei und ungebunden in den leeren Raum der Möglichkeiten treten zu können. Und selbst hier geht es noch immer um die Freiheit vor der Zweckfreiheit. Also, wenn ich mit dem Ziel, eine kreative Lösung zu finden, mich frei zu machen glaube, funktioniert es nicht. Logisch, hier ist wieder ein Motiv am Start. Man könnte auch einfach sagen, wenn man aufgibt, kreativ zu sein, gibt es eine Chance – aber kein Garant – für die Kreativität. Anders ausgedrückt, wenn die Kreativität merkt, dass du etwas von ihr willst, zieht sie sich zurück.
Das führt zu dem provokanten Satz: „There is no creativity if there is a motive behind it.“
Der Kuss der Muse
Natürlich heißt das nicht, dass wir uns nicht mit dem Thema der Lösungssuche beschäftigen sollen oder gar müssen – ganz im Gegenteil. Ein tiefes Eintauchen in die Problematik ist notwendig, ebenso wie das Verständnis für die verschiedensten Aspekte und Beteiligungen. Das ist die Voraussetzung für den Kuss der Muse. Der trifft uns jedoch erst, wenn der Kopf woanders ist, wenn die Präsenz dich voller Genuss die Tasse Tee genießen lässt, dich nichts mehr belastet und du freudig einfach bist. Dann kann der Kuss dich erreichen und schenkt dir Ideen, die dich vor Begeisterung vom Stuhl aufspringen lassen.
»Wissen ist die Basis. Freiheit die Kunst.«*
Das dem so ist, beweisen die größten kreativen Durchbrüche der Menschheit: Penicillin wurde nicht erfunden, sondern vergessen – und zwar von einem Wissenschaftler, der sein Labor so ordentlich führte wie ein Rockmusiker seine Steuererklärung. Auch die Post-it-Notes entstanden nicht aus der Absicht, das Büro der Zukunft zu revolutionieren, sondern aus einem gescheiterten Versuch, einen superstarken Kleber zu entwickeln. Der Chemiker, der dafür verantwortlich war, machte also im Prinzip Karriere, weil sein Klebstoff nicht klebte.
Viele Erfindungen begannen als Nebensache, angebliche Zufallsprodukt, beim Spazierengehen oder im Halbschlaf.
Paradoxon
Je absichtsloser wir handeln, also ohne Erwartungen an den nächsten Designpreis, desto tiefer wird die Quelle, aus der wir schöpfen können. Wer sucht, findet nichts. Wer loslässt, findet alles.
Wie also können wir die Kreativität finden und fördern? Ein weiteres Paradoxon: wir können nichts „tun“. Die gute Nachricht: Kreativität ist ein Teil von uns, sie ist unser natürliches Erbe. Kreativität ist unsere Natur. Was wir jedoch können, ist die Umstände und Umgebungen so zu gestalten, dass der kreative Fluss Raum finden kann – in uns und um uns. Dazu gehören Spaziergänge im Wald – alleine ohne Quasselstrippe neben dir – Naturerlebnisse, Stille, ein Gespräch über moralische Verantwortung mit deiner Computermaus oder einfach im eigenen Sein verweilen. Kurz, alles, was uns in die vollständige Präsenz bringt, hilft.
Und, wenn die Kreativität dich küsst, lass es geschehen!
Denn am Ende stimmt’s: There is no creativity if there is a motive behind it.
Aber es gibt jede Menge Motive, die eigene Kreativität zu fördern – sobald du vergisst, dass du welche hast.
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* Zitat © Dr. Sybs Bauer
